So wie die erste industrielle Revolution ihren Durchbruch der Dampfmaschine verdankte, gründete die zweite auf der Miniaturisierung elektronischer Schaltkreise. Die stetig wachsende Rechengeschwindigkeit der Mikroprozessoren geben seit 1971 den Takt für Innovationen und Produktionszyklen vor. Die Darstellung eines Labyrinths aus Leiterbahnen und Lötpunkten auf Briefmarkengröße wurde seitdem zum Sinnbild des Informationszeitalters in der heutigen Spannweite, vom Personal Computer bis zum Smartphone, vom Automobil bis zur Waschmaschine.
In seinem Repertoire signifikanter Bild-Ikonen, die Lebens- und Konsumwelt unserer Gegenwart repräsentieren, tauchten diese Schaltpläne der Mikrochips bereits vor über 20 Jahren in der Malerei Dag Seemanns auf und waren hier zumeist Bestandteil komplex arrangierter Kompositionen. Seit 2019 erforscht der Künstler dieses Sujet nun konsequent als eigenständiges Motiv in gleichermaßen konzentrierter und spielerisch-offener Weise, in der die Mikrostrukturen der Elektronik in Makrostrukturen von Malerei und Skulptur übersetzt werden. Wichtige Etappen auf diesem Weg bildeten ein großes Wandbild von 2016 und das Modell für eine Metallskulptur aus 2017.
Dag Seemann steht hier in einer Tradition der künstlerischen Avantgarde, die seit über 100 Jahren auch nicht-künstlerische Bildwelten und -systeme auf ihre inhaltlichen und formalen Potenziale hin befragt. Stellvertretend genannt werden können Marcel Duchamp und Francis Picabia, die technische Zeichnungen und Diagramme aufgriffen und künstlerisch umdeuteten. Man könnte auch Peter Brüning mit ins Feld führen, der Piktogramme der Kartografie für einen neuen Typus von Landschaftsbild in den 1960er Jahren verwendete. Wie diese rückt Dag Seemann dabei die spezifische Ästhetik der ursprünglich technischen Visualisierung in den Fokus, ohne sich in der einfachen Kopie oder Vergrößerung zu erschöpfen. Vielmehr bilden die wenigen optisch lesbaren Elemente der Platinen, die Linien und Punkte, die Grundstruktur fiktiver Schaltungen innerhalb einer künstlerisch offenen Syntax, die nicht elektrotechnisch funktionieren muss, sondern künstlerisch.
Die Möglichkeiten dieses einfachen Systems von Vertikalen und Horizontalen im rechten Winkel zueinander ausgerichtet, erweisen sich dabei als äußerst vielfältig. Die Schaltungen erscheinen in der Malerei und den Reliefs als mehrschichtig und verschieden dimensioniert. Farbige Kontraste verstärken die räumliche Wirkung, die in den Reliefs und Skulpturen, im Bezug zur Umgebung, auch unmittelbar anschaulich wird. In ihrer malerischen Form sind diese Kompositionen über den Bildrand hinaus in der geistigen Vorstellung erweiterbar, im Sinne eines All-over-Paintings. Die dreidimensionalen Werke sind tatsächlich Raum-greifend, besitzen aber runde Flächen (die „Lötstellen“) als Endpunkte, die das Gefüge figurativ abschließen. Vor allem die Reliefs treten hier in einen konkreten Dialog zur Wand, im Wechselspiel mit den auskragenden oder durchbrochenen Elementen.
Dies gilt nicht minder für Skulpturen aus axial und rechteckig miteinander verschränkten, flachen Formen, deren runde Enden mitunter an Köpfe, Hände und Füße erinnern, die Linien wiederum an Arme und Beine. Dieses assoziative Potenzial wirkt bis in die Werktitel Dag Seemanns hinein, erinnern an Tanz und Musik („Jump and Jive“) oder spielen ironisch mit erotisch-frivolen Klischees („Boxenluder“).
Dabei muss hier insbesondere auch der Widerspruch zwischen der technoiden Formensprache und der Freiheit ihrer künstlerischen Interpretation ins Auge stechen. Diesem äußerlichen und formalen Gegensatz entspricht auch ein inhaltlicher Kontrast. Mikrochips sind gewissermaßen das absolute Konzentrat menschlichen Strebens nach höchster Effizienz und Funktionalität unter optimaler Nutzung der Ressourcen. Die Kunst stellt den Gegenpol zu diesem streng utilitaristisch ausgerichteten Konzept dar, wenn – so wie bei Dag Seemann im sparsamen Einsatz bewusst gewählter Mittel – ein großer Reichtum an Ideen entfaltet wird.
Thomas W. Kuhn, 2021