Hendrik Bündge: Die malerischen Möglichkeiten unvereinbarer Gegensätze

Zu den Gemälden von Dag Seemann

Mit der Entdeckung von mathematischen Formeln zur Berechnung der Zentralperspektive in der frühen Neuzeit durch Filippo Brunelleschi erweiterten sich die Möglichkeiten der Produktion von Illusion in der Malerei merklich. Im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts bildete das Malereitraktat „De Pictura“ durch Leon Battista Alberti ebenso wie Piero della Francescas 1470 erschienenes Buch „De Prospettiva Pigendi“ erstmals die Grundlage für eine malerische Auseinandersetzung mit dieser Errungenschaft. Exakte mathematische Beschreibungen der perspektivischen Darstellung zur Konstruktion von Wirklichkeit machten die „Figur-Grund-Komposition“über vier Jahrunderte lang zu einem bestimmenden Element der Malerei. Mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln entwickelte sich das Tafelbild zur „finestra aperta“, das mit Hilfe des zentralperspektivischen Bildkonzepts Ausblick in eine neuen Wirklichkeit bot.1 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem ab 1918 mit den ersten monochromen Gemälden von Alexander Rodchenko – wird das Gemälde nicht mehr nur als Fenster gesehen, sondern mit theoretischen Überlegungen und Inhalten erweitert, die die Hermetik der rein visuellen Form aufbrechen. Mit der Entwicklung abstrakter Malerei wird die Zentralperspektive also zu Gunsten einer neuen Bedeutungsebene abgelöst und zu einer konkret wahrnehmbaren Raumerfahrung. In filmischen und fotografischen Arbeiten lebt hingegen das Strukturmodell der zentralperspektivischen Malerei gleichsam fort. In der Malerei finden fotografische und filmische Stilmittel ihre Entsprechung und erweitern seitdem ihr Reportoire.

Die Faszination an der llusion des zweidimensionalen Bildgrunds, der durch malerische Bearbeitung ins vermeintlich Dreidimensionale erweitert werden kann, wird in den Gemälden von Dag Seemann zum zentralen Bildinhalt erhoben. Im Unterschied etwa zu Ben Willikens oder Hans Peter Reuter konstruiert der 1959 geborene Künstler collagenhafte Überlagerungen mehrerer Raumansichten und Bilddetails mit Öl- und Acrylfarbe auf Leinwand. Diese ausschnitthaften Raumkonzeptionen sind dabei deutlich von der heutigen medialen Wahrnehmung der Welt geprägt. Indem Seemann das Bildgeviert aufbricht und mehrere miteinander korrelierende Einzelbilder zu einem Gesamtpanorama verdichtet, wird die Zeichenhaftigkeit der Motivvorlagen deutlich. Somit legt er nicht nur das Prozesshafte seiner Bildfindung offen. Die Multiperspektivität, beispielsweise in den Gemälden der Serie “Room Paintings“, beflügelt ein Interesse an Entschlüsselung der Einzelbilder durch uns Betrachter. Tiefe und Oberfläche wechseln sich dabei ab und bedingen sich gegenseitig als Störfaktoren. Das scheinbar Unvereinbare wird plötzlich möglich. Dadurch steigert Seemann jedoch gezielt das Unbehagen das uns beim Betrachten ergreift: Das Zuhause als Rückzugsort wird zum Ort des Unheimlichen. Doch wozu das alles, könnte man sich fragen: Als rein visuelles Spiel für uns Betrachter?

Es geht Seemann nicht darum, unsere Vorstellung von Wirklichkeit als Konstruktion zu entlarven, die dem spielerischen Enträtseln der einzelnen Bildmotive nachfolgt. Vielmehr widmet er sich den malerischen Möglichkeiten der Gegensätze, Fragmente von Personen und Dingen also, die für ihn in den Gemälden der Serie „Form-Flächen-Bilder“ als Kommunikationszeichen fungieren. Wie Erinnerungssplitter tauchen scheinbar unvereinbare Objekte, Formen und Porträts auf, die von einer Vergangenheit berichten, die gänzlich anders scheint, als die gegenwärtige Präsenz auf der Leinwand. Das modernistisch aufgeladene Raster als Zeichen für Anti-Natur wird in seiner rigorosen Struktur mit amorphen Schlangengebilden konfrontiert. Überhaupt der Gegensatz von Natürlichem und Unnatürlichem: Wie in einem sterilen Forschungslabor wird die keimfreie Edelstahlarchitektur einer Wohnküche im Gemälde „fp 0115“ mit einer wuchernden Grünpflanze konfrontiert. Zwei geöffnete Münder als Bild im Bild bleiben seltsam still. Sie finden ihre dinghafte Entsprechung in Form einer weißen Steckdose. In der Serie der „Solitairs“ tauchen tatsächliche Spuren einer subjektiven Wirklichkeit in Form von Zeitungsschnipseln auf, die Seemann, wie einst die Dadaisten, auf den Bildträger montiert. In vielen Gemälden scheint die Bedeutungsperspektive aus den Fugen geraten zu sein. Ein Spiel auf mehreren Ebenen beginnt: Rechteckige oder runde Formen suggerieren eine Anknüpfung an Sprechblasen der Comickultur. Allein sie sind leer gelassen und kommunizieren nicht mehr. Es scheint, als wäre nicht nur die Sprache zu einem Ende gekommen. Was in den vergangenen sechzig Jahren immer wieder beschworen wurde: die Malerei, abstrakt oder gegenständlich, sei tot. In den Gemälden von Dag Seemann bleibt dieser Dualismus lebendig.

Das Rätselhafte dieser unvereinbaren Gegensätze wird von Dag Seemann zur Entschlüsselung angeboten. Kommunikation scheint möglich. Die daraus resultierenden Brüche sind es, die erst auf den zweiten Blick aufscheinen. Diese machen die Faszination der Gemälde Seemanns aus. So unterscheiden sie sich deutlich von den fortschrittsgeprägten Werken der Pop-Art-Künstler, mit denen Seemann fälschlicherweise häufig verglichen wird. Seemann liegt nichts daran, den Fetischcharakter der Warenwelt zu illustrieren oder etwa Kritik an der Konsumkultur zu üben. Er verknüpft vielmehr verschiedene Aussagen zu einem unduchdringbarem Beziehungsgeflecht. Mit malerischen Mitteln wird gleichzeitig Tiefe und Oberflächlichkeit suggeriert. Doch mit jedem Blick entpuppt sich das eine als das andere. Das Fragmenthafte der verschiedenen Wirklichkeitsebenen rückt den Menschen in den Mittelpunkt und fordert uns Betracher zur Auseinandersetzung damit auf. Was ist Wahrheit und an welche Wirklichkeit möchten wir glauben? Die Leinwand als Fenster ermöglicht bei Dag Seemann gleich mehrere Aussichten. Manchen bleibt der Ausblick verschlossen, anderen erscheint er wie ein zurückgeworfenes Spiegelbild der Realität.

1 Alberti prägte die Bildmetapher des offenen Fensters. Vgl. Gerd Blum, Fenestra Prospectiva. Das Fenster als symbolische Form bei Leon Battista Alberti und im Herzogspalast von Urbino, in: Joachim Poeschke/Candida Syndikus (Hrsg.), Leon Battista Alberti. Humanist – Kunsttheoretiker – Architekt, Münster 2007, S. 65-101.