Thomas W. Kuhn: Malerei an Schnittstellen

Die Welt der Kommunikation und in ihr die Welt der Bilder hat in den letzten sechs Generationen der Menschheit eine radikale Veränderung erfahren. Allein die letzten 30 Jahre haben mit der Computertechnologie durch die Bündelung der Möglichkeiten einen Wandel bewirkt, der wie eine Wasserscheide das analoge vom digitalen Zeitalter trennt. Gleichzeitigkeit und Globalität der elektronischen Medien verwischen die Idee eines logischen und ursächlichen Nacheinander durch ein alogisches Nebeneinander. Es ist jenes Nebeneinander, für das der Dichter Lautrámont in seinem Werk „Die Gesänge des Maldoror“ eine wegweisende Metapher fand: „schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“. Die Existenz der Bildschirmwelt als reines und gelegentlich zufällig wirkendes Konstrukt von Wirklichkeit wird dabei ebenso fraglos akzeptiert, wie die Auflösung des Privaten, in der die Webcam längst in die verlorene Intimität des Schlafzimmers eingedrungen ist.

Nicht nur Vertreter der Religion und ihrer Erben, den Philosophen und Psychologen haben die menschliche Kommunikation mit sich selbst und der Welt um sie herum reflektiert und analysiert. Seit den ersten Bildern auf den Wänden von Höhlen und Gestalten aus Knochen und Lehm in der Steinzeit haben sich die Künstler diesem Kreis hinzugesellt. An der Schnittstelle zwischen der Sache und ihrem Abbild, aber auch der noch nie vorher gesehenen Imagination, gehört die Reflektion über das künstlerische Medium zur Darstellung selbst immer mit hinzu, und sei die Reflektion auch nur die Wahrnehmung ihrer Wirkung. Denn es ist keineswegs trivial, wenn Farbflecken auf einem Felsen als Jäger und Gejagte zu erkennen sind.

Vielleicht nur im Zuge einer Koinzidenz fanden mediale Umbrüche, wie die allgemeine Verfügbarkeit des Buchdrucks oder der Fotografie ihre nicht minder revolutionären Parallelen in der Kunst, von der Renaissance bis hin zum Realismus. So hat auch die Kunst, die darstellende wie die bildende, in den letzten sechs Generationen einen ungeheuren Wandel erlebt. Meilensteine wie Kubismus (hinsichtlich des konstruierten Charakters des Bildes), des Surrealismus (hinsichtlich der psychologischen Dimension des Bildes) oder der Pop-Art (bezüglich der massenmedialen Verortung des Bildes) können als Beleg für das große Maß an Reflektionsfähigkeit und Innovationskraft bildender Künstler auf Tuchfühlung mit der modernen Welt von Wissenschaft und Technik dienen. Sogar die Krise der Moderne selbst findet möglicherweise ihr Echo im Zweifel am Bild am Ende der 1960er Jahre, just in dem Moment, als in den USA mit Arpanet, dem Vorläufer des Internets, die Idee eines Zentrums in kommunikationsgebunden Strukturen eliminiert wurde. Nicht die Fotografie hat die Aura zerstört (so lange sie an ein Stück Metall, Glas, Kunststoff oder Papier gebunden ist), sondern die Immaterialität von Zeichenfolgen, die das Bild und den Text ersetzen. Die Postmoderne beginnt, die Matrix wird angeschaltet.

Dag Seemann malt dennoch und vielleicht sogar deshalb, denn Strukturen und Formen zeitgenössischer Repräsentation von Dingen und Erzählungen fließen darin ein. Seine Malerei reflektiert die skizzierten Entwicklungen einer veränderten Repräsentation von bildhafter Wirklichkeit. Kompositorisch folgen seine „Mindscpapes“ und „Fictious Places“ dem Prinzip der Durchdringung und des unvermittelten Nebeneinanders, der Gleichzeitigkeit von vielem. 

In der Geschichte der Kunst hat eine besondere Gattung des Stilllebens den Vorläufer dieser Art von Bildstruktur begründet. Das Auge täuschende Quodlibets (dt. „wie es beliebt“) vereinigten disparate Gegenstände an Klemmbrettern, Tafeln und Nägeln. Ihr Erweiterung in der Klassischen Moderne waren die echten und gemalten Papier Collé von Georges Braque und Pablo Picasso. Diese Traditionslinien fortsetzend stellt Dag Seemann mit seinen gemalten Collagen zwei ganz wesentliche Fragen: wie verändert das Nebeneinander der im Bild sichtbaren Medien das Verständnis der bildlichen Wirklichkeit und wie verändert die Darstellung des Nebeneinanders zusammenhangloser Dinge die Wirkung auf den Betrachter. Der erste Punkt richtet den Blick auf das Medium, der zweite auf psychologische Rezeption.

Ganz im Sinne von Jasper Johns lässt sich bei manchen Partien fragen „Is it a flag or a painting“. Ist also eine rechteckig gefasste Formation von abstrakt-expressionistischen Pinselstrichen bei Das Seemann also schlicht konkrete Kunst: Farbe auf Leinwand ohne repräsentativen Charakter. Oder handelt es sich um die Darstellung eines abstrakt-expressionistischen Bildes. Auf der psychologischen Ebene verhält es sich ähnlich. Handelt es sich um malerisch erzeugte Formationen von Formen und Farben, die Ähnlichkeiten mit einer attraktiven Frau besitzen, um Malerei oder Erotik? In der Sekunde, in der ein Betrachter oder eine Betrachterin auf den erotischen Schlüsselreiz reagieren, wird jene Magie wirksam, die zu den Urgründen der Kunst führt. So mag also der schweifende Blick des visuellen Flaneurs in der disparat montierten Melange an den Schlüsselreizen hängen bleiben.

Dass hier Farbe und Form ein reales Wesen zu ersetzen wissen wird noch über einen Umweg deutlich. Gemalte Designobjekte und Architekturen sammeln ebenso magnetisch wirkend den Blick eben jener, die nicht allein für die eigentlich primär körperlichen Sensation zugänglich sind. Der erotisch-sinnliche Stimulus kann sich auf ein Objekt übertragen, wie einer lasziv gewundenen Deckenlampe, die als Fetisch ihre Wirkungsmacht entfaltet. Bilder von Einzelobjekten wie Parfum-Flakons oder Benzinkanister zielen auf den Kern dieser Art von Objekt-Fetischismus. Und gerade diese beiden Arten von Objekten spekulieren auf die synästhetische Assoziation. Appellieren nicht Flakon und Kanister mit einer gewissen Zwangsläufigkeit an den Geruchssinn?

Wie überaus zweideutig Dag Seemann arbeitet, zeigt sich auch dann bei spezifischen malerischen Objekten, die ebenso gut als gestreckte, abgerundete Form, Pille oder erotisches Werkzeug zu deuten sind. Wenn hier kompositorisch, durch die Überlagerung von Motiven und Referenzebenen auch einiges auseinanderbricht, mag die abstrakt-abgerundete Form doch wieder auf das sexuell konnotierte Motiv abzielen. Das sie zugleich als Geschosse gedeutet werden können oder als ominöse Kapseln, Informationsträger einer rätselhaften Rohrpost widerspricht dem nicht.

Entsprechend dem Wechselspiel von medialer Reflektion und ästhetischer Suggestion pendelt das materielle Arbeiten Dag Seemanns zwischen den beiden großen gegensätzlichen Strömungen der Malerei. Pittura und Disegnio stehen im Widerstreit, unterminieren regelmäßig das Konzept einer homogen- gefälligen Form. Aber hier wird der möglicherweise symptomatische postmoderne Bruch mit dem Glauben an die originär kulturstiftende Kraft des Mediums nicht durch Zynismus konterkariert, wie er in Malerkreisen der 80er Jahre Schule machte. Auf den Spuren des Torso von Belvedere und den unvollendeten Sklaven Michelangelos integriert Dag Seemann Zonen malerischer Imperfektion in seine Malerei: ein mehr als gewagtes Spiel. Diese Subversion erinnert strategisch an die malerischen Experimente eines Marcel Duchamp oder Francis Picabia, die äußerst eloquent ästhetischen Bastarden Geburtshilfe leisteten. Denn wo Duchamp und Picabia den technischen Bildern der Industrie metaphorische Relevanz beimaßen, honoriert Dag Seemann die pixeligen Bilder der Computerwelt, sowohl bei figurativen, wie nicht-figurativen Motiven.

Als wäre dann auch das Nebeneinander in den Bildern selbst nicht genug, stehen bei Dag Seemann verschiedenartige Bildserien parallel. Dabei verweisen die vergleichsweise konventionellen Porträts naturgemäß in eine andere Richtung als rein nicht-figurative Motive oder die komplex kontextualisierten Montagen unterschiedlicher Sujets und Abbildungstechniken. Gerade in den Porträts, die durchaus mit anderen zeitgenössischen Malern wie Alex Katz oder Julian Opie ausgeprägte Gemeinsamkeiten haben, findet sich auch wieder ein formal-ästhetischer Rückverweis auf Alexeij von Jawlensky als Repräsentant der meditativen Variante der Klassischen Moderne. Jawlenky evoziert zugleich die spirituell hochgradig aufgeladene Ikonenmalerei, die wiederum in ihrem Anspruch auf exakte Reproduktion tradierter Vorlagen einen mechanistischen Fetischismus aufweist.

Dag Seemann erschöpft sich mit seinen Bildern weder in Didaktik noch Kunstgeschichte. Erkenntnis ist im ungünstigsten Fall eine Kollateralerscheinung von Poesie. Brüche in der Kontingenz von Form und Bildsprache dürfen dabei als Garanten eines nicht-trivialen Verführungsversuchs gedeutet werden. Diese Mischung reflektiert im Wesentlichen die mitunter krude Weise, in der auf dem Computer, in der Zeitung oder im Internet Reiz und Medium aufeinander prallen: der Schnitt ins Auge des Betrachters.

Verwirrung ist hier eine plausible Reaktion auf den Verlust an Dechiffrierbarkeit. Was innerhalb dieser schier endlosen Flut an Informationen repräsentiert gemeinschaftlich wirksame oder individuell gefundene Wahrheit? Liegt diese Wahrheit in dem offenen Netz dieser Informationspartikel oder genau dazwischen? Der somit potenziell verwirrte Betrachter der Bilder Dag Seemanns schaut in den Spiegel dieser ultimativ dünn übereinandergeschichteten Daten.

Was die Sache reizvoll macht, in Kreisen, die nicht nur einen Sinn für das Neben- sondern auch Nacheinander haben, gilt das nicht zuletzt: bei Dag Seemann ist nach wie vor ein Individuum mit einer individuellen Handschrift sichtbar. Dafür muss er nicht blind sein für die Gegenwart der neuen Bildstruktur unter berührungsempfindlichen Glas. Bricht man das Interesse an diesen neuen Bildern zurück ins wirkliche Leben, kommt der auch im Computerzeitalter relevante Grundaspekt im Leben zum Zuge, nicht frei vom ganzen Spektrum kristallisierter Klischees von Bollywood bis Babelsberg: Erotik. Fragment und Fantasie führen im cut-up der Motive mitten hinein in den Assoziationsraum, einer Passage in der sich Nähmaschinen und Regenschirme im sinnlichen Miteinander auf Seziertischen begegnen.

Thomas W. Kuhn, Tiergarten im Juni 2015